Gerade einmal acht der
DAX-30-Unternehmen greifen auf eine Wesentlichkeitsanalyse zurück, die den
Blick auf relevante wirtschaftliche, ökologische und soziale Auswirkungen des
Unternehmens richtet. Eine aktuelle Mitteilung der EU Kommission könnte das
ändern.
Für
die Mehrheit der Unternehmen (15 von 30) bleibt neben der etablierten
Stakeholder-Perspektive die eigene Unternehmensperformance der einzige Fokus. Zwei
Unternehmen beschränken sich auf die enge Wesentlichkeitsauslegung gemäß CSR-RUG
(§289c III HGB). Bei den restlichen Unternehmen bleibt die
Materialitätsdefinition im Nachhaltigkeitsreporting so unklar und
widersprüchlich, dass eine Zuordnung kaum möglich ist. Angesichts der enormen
Bedeutung der Wesentlichkeitsanalyse für die Nachhaltigkeitsperformance,
Positionierung und Kommunikation sind das erschreckende Ergebnisse. Die
Materialität bleibt das Sorgenkind der CSR. Eine aktuelle Mitteilung der
Europäischen Kommission könnte nun für Bewegung sorgen.
In
diesem Beitrag werde ich mich mit den Vorteilen einer wirkungsorientierten
Materialitätsanalyse beschäftigen und das Innovationspotenzial für Unternehmen beleuchten.
Ganz am Ende betrachte ich kurz den Begriff der „ökologischen und sozialen
Wesentlichkeit“. Er wird in den Mitteilungen der EU-Kommission vom 20.06.2019 („Leitlinien für die
Berichterstattung über nichtfinanzielle Informationen: Nachtrag zur
klimabezogenen Berichterstattung“) eingebracht und könnte sich zum Wendepunkt im Nachhaltigkeits-Reporting
entwickeln. Es ist nicht weniger als ein konstruktiver Angriff der
EU-Kommission auf den engen Wesentlichkeitsbegriff.
Die wirkungsorientierte
Materialität
Stellen
Sie sich folgendes Szenario vor:
Die
CSR-Chefin sitzt im Meetingraum. Vor ihr auf dem Tisch liegen
Nachhaltigkeits-Stichworte für das Interview mit dem Leiter des
Risiko-Managements des erfolgreichen Start-up-Unternehmens. Die persönlichen
Treffen mit den wichtigsten Führungskräften sind ein wichtiger Beitrag zur
Definition der für das Unternehmen „wesentlichen Nachhaltigkeitsthemen“. Die
Zeit drängt. Bald schon soll die „Short-List“ für die quantitativen Befragungen
stehen. Die Ergebnisse sind ein zentraler Meilenstein auf dem Weg zur geplanten
Nachhaltigkeits-Strategie.
Die
Führungskraft betritt mit ernster Miene den Raum. Es folgt eine sehr kurze
Begrüßung und dann geht’s direkt los: „Ich habe mit meinem Team gerade die
Risiko-Analyse abgeschlossen. Und jetzt kommt ihr mit eurer
Materialitäts-Matrix und macht den gleichen Prozess nochmal! Das ist doch
Zeitverschwendung!“
Gut,
dass auf dem Tisch die geplante Materialitäts-Matrix ausliegt. Die CSR-Chefin zeigt
auf die Beschreibung der X-Achse: „Auswirkungen der unternehmerischen Tätigkeit
auf Wirtschaft, Umwelt und Soziales”. Nach und nach hellt sich die Miene des
Risiko-Managers auf: Trotz naturgemäßer Überschneidungen ist der fokussierte
Blick auf die Effekte des Unternehmens auf Nachhaltigkeitsaspekte nicht mit der
klassischen Risikoanalyse vergleichbar. Das Wesentlichkeits-Interview wird mit
guten Ergebnissen abgeschlossen.
So
oder ähnlich könnten Treffen zwischen Risiko-Management und CSR-Bereich
ablaufen.
Die Vorteile einer weit
gefassten Materialitätsanalyse
Welchen
Vorteil aber haben die acht DAX30-Unternehmen, die sich auf die wirtschaftlichen,
ökologischen und sozialen Effekte ihrer Tätigkeit konzentrieren?
1. Der internationale
Reportingstandard GRI wird erfüllt
Die
Global Reporting Initiative
(GRI) setzt
den international am weitesten verbreiteten Standard zur
Nachhaltigkeits-Berichterstattung. Die Grundlage einer Berichterstattung nach
GRI ist Transparenz, ihr Ziel eine Standardisierung und Vergleichbarkeit. Die
GRI-Richtlinie in Bezug auf die Ermittlung der Wesentlichkeit ist klar
wirkungsorientiert:
“The report should
cover Aspects that reflect the organization’s significant economic,
environmental and social impacts; or substantively influence the assessments
and decisions of stakeholders.” (GRI 101)
Unternehmen,
die nach GRI berichten und diese Definition ignorieren oder in ihrem Sinne wortgewandt
umformen, sollten sich die Frage stellen, welches Signal sie damit zum Beispiel
gegenüber verständigen Analysten, Portfoliomangern oder Investoren senden.
2. Sie übernehmen erkennbar
Verantwortung für ihr Tun
Wer
den Blick nur auf die eigene wirtschaftliche Performance richtet oder ausschließlich
die Relevanz der Nachhaltigkeitsthemen für das eigene Unternehmen betrachtet,
begrenzt den Blick und übernimmt Verantwortung im Zweifel nur für sich selbst
sowie für seine Shareholder und Investoren.
Die
acht Vorreiter aus dem DAX30 erweitern stattdessen ihren Blick auf den
Nachhaltigkeits-Kontext. Methodisch vorbildlich macht
das etwa E.ON:
„We analysed our
impact on sustainable development with regard to each (sustainability) topic.
We did this by assessing our impact at the various links of our value chain and
at our locations. We also assessed the impact of the energy industry as a
whole.” (E.ON Sustainability Report
2018, S.
16)
Mit
solch einer Wirkungsanalyse verschaffen sich Unternehmen die Informationen über
das, was die eigene wirtschaftliche Tätigkeit für Gesellschaft und Umwelt bedeuten.
Unabhängig von der Bedeutung dieser Auswirkungen für das eigene Unternehmen. Sie
entsprechen damit den Erwartungen der Zivilgesellschaft, von Verbraucher*innen
und Mitarbeiter*innen sowie von Anlegern. Die Bezugnahme auf den
Nachhaltigkeitskontext und die Veröffentlichung dieser Informationen ist ein
wichtiger Schritt bei der Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung. Wer
darüber hinaus das eigene Handeln danach ausrichtet, negative Effekte zu
minimieren und positive Effekte zu optimieren, der positioniert sich erkennbar
als Teil der Gesellschaft und stärkt seine Reputation.
3. Ergänzung und Stärkung
des Chancen- und Risikomanagement
Die tradierten Risikomanager tun sich weiterhin
schwer, externalisierte Risiken in das Chancen- und Risikomanagement zu
integrieren. Oft gelangen diese Themen erst gar nicht auf das Risiko-Radar.
Der weite Blick und die Identifizierung der wesentlichen
unternehmerischen Wirkungen auf die Nachhaltigkeitsthemen machen diese oft
längerfristigen Risiken transparent. Eine Auseinandersetzung des Unternehmens mit
diesen externen Wirkungen ergänzt und stärkt somit das klassische
Risikomanagement.
Risiko- und CSR-Management arbeiten so mit
unterschiedlichen Perspektiven und im besten Fall gemeinsam an der
langfristigen Resilienz des Unternehmens. Denn früher oder später kommen auch
externalisierte Risiken zum Unternehmen zurück: etwa in Folge des Klimawandels
durch Unwetterschäden oder durch politische Regulierungen, etwa bei
Menschenrechts- oder Klimafragen.
E.ON beschreibt in seiner Wesentlichkeits-Methodik, dass
die Unternehmensführung sich ausdrücklich mit diesen Themen auseinandersetzt.
Damit erhält die Führung nicht nur ein besseres Gefühl für diese besondere Art
von Risiken. Das Unternehmen kann mit diesen Informationen gezielt seine
Kompetenzen einsetzen. Etwa, um negativen Wirkungen zu minimieren. Oder aber,
um eigene Lösungen für die Herausforderungen zu entwickeln. Damit füllt sich
die Innovations-Pipeline des Unternehmens.
Die EU-Kommission
bevorzugt die weite Wesentlichkeitsdefinition
Zwei der DAX30-Unternehmen beziehen sich in ihrer
Wesentlichkeitsanalyse ausdrücklich auf die „doppelte Wesentlichkeit“ (vgl. hierzu
Kajüter, IZR 2016, S. 507ff.) im Sinne des § 289c Abs. 3 HGB. Wesentlich sind Sachverhalte
demnach, wenn sie für das Verständnis des Geschäftsverlaufs, des
Geschäftsergebnisses und der Lage des Unternehmens sowie der Auswirkungen
seiner Tätigkeit auf die nichtfinanziellen Aspekte erforderlich sind. Dabei
müssen nach herrschender Meinung beide Voraussetzungen zugleich („sowie“)
vorliegen.
Diese sehr enge Definition der Wesentlichkeit mag
für Unternehmen verlockend sein. Unternehmen, von denen zunehmend erwartet
wird, Gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, sollten von solch einer
engen Auslegung aus zwei Gründen Abstand nehmen.
Erstens,
blendet diese Auslegung die ökologische und soziale Wesentlichkeit aus. Insbesondere
im Klima-Reporting fehlen Investoren damit wichtige Informationen. Denn immer
mehr Investoren wollen insbesondere die klimatischen Auswirkungen der Tätigkeit
von Unternehmen, in die investiert werden soll, kennen. Nur so können sie die
Auswirkungen ihrer Investment-Portfolios auf das Klima verstehen und bewerten.
Zweitens,
und mit der gerade genannten Begründung, deuten sich auf europäischer
Regulierungsebene möglicherweise Veränderung in diesem Sinne an: So schreibt
die EU-Kommission in ihren „Leitlinien für die Berichterstattung über
nichtfinanzielle Informationen: Nachtrag zur klimabezogenen Berichterstattung“
(EU KOM 2019/C 209/1): „Entscheiden Unternehmen, dass das Klima unter einer
dieser beiden Perspektiven ein wesentliches Thema ist, sollten sie in Erwägung
ziehen, die in den vorliegenden Leitlinien vorgeschlagenen Angaben zu machen.“
Zumindest für die klimabezogene Berichterstattung erwartet die EU-Kommission
also die weite Wesentlichkeitsanalyse der Unternehmen. Logisch ist dann, die
Wesentlichkeitsanalyse komplett (auch) auf die ökologischen und sozialen
Wirkungen zu erweitern.
Diesen Weg geht – im Nachhaltigkeitsbericht – zum
Beispiel der Konsumgüterhersteller Henkel:
„We assess the
importance of the topics for the company, environment and society, and also for
our stakeholders. When selecting the topics, we go beyond the relevance
definition of the CSR Directive Implementation Act (“CSR-RUG”) in conjunction
with Sections (§§) 289b to 289e of the German Commercial Code (HGB).” (Henke, Sustainability Report 2018).
Ein
Weg, der angesichts der aktuellen Entwicklungen auf europäischer Ebene ausdrücklich
zu empfehlen ist.